Die ganze Wahrheit
Sterntaler lehnte sich wohlig in ihrem mit bunten Häkelauflagen verzierten Ohrensessel zurück. Zu ihren Füßen war die ganze Enkelschar versammelt. Im Kamin knisterte ein behagliches Feuer. Bratapfelduft lag in der Luft.
'Welch heimelige Atmosphäre' dachte Sterntaler. 'Gar nicht schlimm, daß der Rippenheizkörper ausgefallen ist.'
"Oma - erzähl uns doch bitte nochmal, woher Du so reich geworden bist" ließ sich ein kleiner blonder Junge vernehmen. Mit großen blauen Augen blickte er seine Großmutter an.
"Also gut. Hört zu, denn das war so..." Lächelnd schaute Sterntaler auf ihre Nachkommenschaft. Ein spitzbübisches Lächeln stahl sich in ihre Mundwinkel.
"Wie ihr wißt, erzählt man sich die Geschichte derart, daß ich meine letzte Brotrinde, mein Mützchen und mein letztes Hemdchen hergab und mit zu Talern verwandelten Sternschnuppen belohnt wurde." - Die Enkel nickten; diese Geschichte kannte jedes Kind. - "Was sich aber wirklich zutrug, wissen die allerwenigsten. Denn eigentlich traf ich niemanden auf meinem Weg durch den dunklen Wald. Vielmehr erreichte ich den Waldsaum und fand mich in der Nähe eines kleinen Häuschens, das unbeleuchtet war. Da ich aber Hunger hatte und ein Nachtlager suchte, klopfte ich an Tür und Scheiben. Natürlich machte niemand auf, denn es war unbewohnt. Somit probierte ich den Türknauf. Und - oh Wunder - die Tür war nicht verschlossen !! Mit pochendem Herzen ging ich hinein, weil es zu regnen begonnen hatte."
"War da schon das laute Geräusch ?" unterbrach sie ein kleines rothaariges Mädchen mit roten Wangen.
"Nein nein, das kam erst später" kicherte Sterntaler. "Zunächst einmal vergewisserte ich mich, daß niemand da war - dann suchte ich die Küche, um etwas Eßbares zu finden; der Hunger meldete sich, und ich beschloß, dem Besitzer etwaige Lebensmittel zu ersetzen, die ich verspeisen würde. Irgendein Nebenjob würde sich schon finden lassen."
Knisternd fiel ein Holzscheit im Kamin in sich zusammen. Funken stoben in den Rauchabzug hoch.
"Ich steckte gerade mit dem halben Oberkörper in einem Küchenschrank - da schrillte ein Klingeln durch die Nacht !! Erschrocken stieß ich mir die Stirn beim Wenden des Kopfes. Aus einer Schramme sickerte etwas Blut."
Ein Raunen ging durch die kleinen Zuhörer. - "Es war nicht schlimm", beruhigte Sterntaler, "aber im Schreck dachte ich nur daran, Hilfe zu rufen. Das als Telefon identifizierte Klingeln war meine Anlaufstelle. Der Apparat stand im Durchgang zum Wohnraum, und in glücklicher Voraussicht hatte der Besitzer des Hauses einen Zettel an der Wand befestigt mit einer Servicenummer. Ich wählte und bekam folgende Ansage: >>Wünschen Sie Essen oder Getränke zu bestellen, drücken Sie die EINS. Haben Sie Schmerzen und wollen mit einem Arzt verbunden werden, drücken Sie die ZWEI. Brauchen Sie einen Handwerker oder Dienstpersonal, drücken Sie die DREI. Sind Sie eine wohlgebaute, blonde, unverheiratete Frau und möchten einen einsamen, treuen, gut situierten Unternehmer glücklich machen, drücken Sie die VIER.<<
(Post editiert am 08.09.2011 - 14:32) |